Wieder einmal bin ich in Bamako, der Hauptstadt Malis. Genau vor vierzig Jahren wurde ich in dieser Stadt geboren. Mit einem Stipendium der Swiss African Research Cooperation (SARECO) kehre ich als Forscher wieder heim. In Mali möchte ich erfahren, wie Regierung (eng. Governance), Mehrsprachigkeit und nachhaltige Entwicklung in diesem Land praktiziert werden, wozu ich mit dem Institut des Sciences Humaines (ISH) zusammenarbeite. Seit 2016 bildet die Agenda 2030 den globalen geltenden Rahmen für die nationalen und internationalen Massnahmen zu einer gemeinsamen Lösung der zentralen Herausforderungen der Welt. Die englische Bezeichnung «Sustainable Development Goals» (SDGs) ist geläufiger. In ein paar Tagen fahre ich mit einem Forschungsteam nach Dioro. Doch nichts wurde vorbereitet wie abgemacht. Ich muss mich auch noch in Bamako zurechtfinden, denn die Stadt hat sich in den letzten Jahren stark verändert. Am meisten beschäftigt mich jedoch seit meiner Ankunft die Durchführbarkeit meines Forschungsprojekts: Wie soll ich in einem Land über die Agenda 2030 forschen, das mitten in einer gravierenden Sicherheits- und politischen Krise steckt? Wie kann ich Interviews über Themen wie Mehrsprachigkeit, nachhaltige Entwicklung und Partizipation in einem Land durchführen, wo gerade die Rede von ethnischen Konflikten ist? Wie kann ich in diesem Kontext der Umsetzung bzw. der Praxis meiner hochgepriesenen Ziele der Agenda 2030 im Alltag der Menschen nachspüren? Wie finde ich die Balance zwischen meiner Aufgabe als Wissenschaftler und meiner emotionalen und subjektiven Wahrnehmung des Landes in dieser desolaten Situation? Das wird alles andere als einfach.
Bamako. Für einen Rückkehrer ist Bamako nicht mehr erkennbar. Die Stadt wird unaufhaltbar gross, eigentlich zu gross. Bamako wird auch «die Stadt der drei Kaimane» genannt – auf Bambara bedeutet die Bezeichnung allerdings „der Fluss der Kaimane“. Im 16. Jahr wurde die Stadt von Angehörigen vom Stamm der Marka gegründet. Es wird dort am meisten Bambara gesprochen, die vorherrschende Nationalsprache, die viele Malier als Erst-, Zweit-, oder zumindest Drittsprache beherrschen. Während der französischen Kolonialzeit wurde Bamako zur Hauptstadt des französischen Sudan. Nach der Unabhängigkeit ist sie die Hauptstadt von Mali. So hat sie sich zum wichtigsten wirtschaftlichen, politischen und soziokulturellen Zentrum des Landes etabliert. Experten zufolge repräsentiert Bamako heutzutage eine der wachstumsreichsten Städte Afrikas. Von den 18 Millionen Einwohnern des Landes ist jeder Zehnte hier wohnhaft. Die Stadt boomt: überall Baustellen und Kräne. Seit Beginn der Krise in 2012 strömen Flüchtlingswellen in die Hauptstadt und tauchen dort in Menschenscharen bei Verwandten ab – oder auch nicht. Zudem sind Bettler und Strassenkinder an jeder Verkehrsampel zu sehen.
Landverwaltung in Mali. Ein schwieriges Thema. Die Bürgermeister der sechs Gemeinden Bamakos haben sich als erbarmungslose Geschäftsleute im Landverkauf spezialisiert. Daraus ist ein stinkender florierender Wirtschaftssektor entstanden, in dem Korruption und Fälschungen administrativer Dokumente regieren. Man könnte glauben, dass die Bürgermeister nur dafür gewählt werden. Auf Kosten ihrer eigenen Wähler. Wachstumshungrig und entwicklungsgierig verschlingen die «drei Kaimane» ohne klare Urbanisierungspläne die ländlichen Vororte und deren Ackerflächen. Landverteilung (oft auch –Konfiszierung) gehört zum problematischen Alltag in Mali. Laut Experten ist diese unkontrollierte Entwicklung mit ihren gesellschaftlichen Folgen potentiell der wichtigste Implosionsfaktor des malischen Staates. Dennoch herrschen traditionelle Landrechte vor, die in der Grundverfassung anerkannt sind. Für die Versorgung war viel Land notwendig. Aber heutzutage haben sich die Versorgungsverhältnisse drastisch verändert. Immer wenige Menschen kümmern sich um Landwirtschaft. Sie verlassen das Land der Ahnen und begeben sich hoffnungsvoll in die Schlinge der grossen Stadt. In Bamako hoffen sie auf einen sicheren Job mit einem besseren Einkommen. Geld verdienen. Jeden Tag. Ansonsten liegt Europa nicht mehr weit entfernt. Auf jeden Fall haben das Fernsehen und Internet dafür gesorgt, dass das Mittelmeer und die Tore zum europäischen Paradies nicht mehr im Jenseits liegen. Sie sind mehr denn je greifbar und real – zumindest in den Köpfen. Es mag ein Versuch wert sein.
Seit der Tuareg-Rebellion vom MNLA in 2012 und der Besetzung des Nordens durch islamistische Terrororganisationen hat der Staat die Kontrolle über erhebliche Teile des Landes verloren. Trotz französischer Militärintervention unter Beteiligung von UNO-Truppen bleiben die Hoffnungen der Frauen und Männer in Mali für bessere bzw. friedliche Tage mehr denn je in weiter Entfernung. Die Bemühungen des lokalen Militärs sowie die förmliche Existenz des Militärbündnisses von G5-Sahel sind keine Hilfe. Die Metastase des Terrors hat sich bis ins Landeszentrum, in die Regionen von Mopti und Teile von Ségou und Koulikoro ausgebreitet. Neben den unzähligen bewaffneten Organisationen im Norden vermehren sich auch Gruppen von Milizen und Freischärlern im Zentrum, die unter der Verkleidung traditioneller Donso-Jäger agieren. Mal als Peulh, mal als Dogon. Nichts ist sicher. Die Malierinnen und Malier wehren sich gegen jeglichen Verdacht ethnischer Konflikte: „In Mali gibt es keinen ethnischen Krieg zwischen den Peulh und den Dogons“. Auf jeden Fall sind die Täter der Gräueltaten gegen die wehrlose Bevölkerung, die Frauen und Kinder, noch nicht offiziell identifiziert worden. Dieses alt-neue Kapitel in der Geschichte des Landes ist längst nicht abgeschlossen.
05. Januar 2019. Samstagabend.
Ein Versöhnungskonzert «concert de réconciliation nationale» findet statt, damit sich alle Kinder der Heimat versöhnen. Ja, Musik! Sie verbindet die Männer und Frauen aus allen Kultur- und Sprachräumen des Landes. Mali ist dafür bekannt, dass es über eine herausragende Musiktradition verfügt. Alle im Land sind unheimlich stolz, dass Musiker wie Ali Farka Touré, Toumani Diabaté, Salif Kéita, Amadou und Mariam sowie Tinariwen internationale Auszeichnungen wie Grammy Awards erhalten haben. Genau darum geht es heute Abend im Konzertsaal «Bulomba». Fatoumata Diawara und Kader Tahrani tragen die grosse Bürde, durch Musik die «Brüder und Schwestern der Heimat» zu versöhnen. Heute Abend entspricht das Publikum am Konzert dem farbenfrohen multikulturellen Mehrvölkerland Mali: Peulh, Tuareg, Songhay, Bambara, Dogon, Malinke, Marka, Senoufo, Minianka, Bozo, Bobo etc. Einheit trotz Verschiedenheit. Doch heutzutage steht dieses Motto auf dem Kopf. «Faso», die Heimat steht vor der grössten und facettenreichsten Überlebenskrise, die sie je zuvor erlebt hatte.
Fatoumata Diawara, die berühmte Schauspielerin, Sängerin und Musikerin tritt weltweit auf. Sie kommt aus Bamako und spielt mit dem aufsteigenden jungen Tuareg-Musiker aus Kidal, Kader Tahrani. Den Musikkünstlern und Organisatoren zufolge habe man mit diesem Konzert jegliche Form von Extremismus und Diskriminierung anprangern und zugleich für mehr Toleranz und Zusammengehörigkeitsgefühl im Land sensibilisieren wollen. Auf der Bühne war auch Toya anwesend, die Hauptdarstellerin des Films Timbuktu [1] von Aderrahmane Sissako. Toya ist das Tuareg-Mädchen, dessen Eltern (Kidane und Satima) im Kreuzfeuer der Dschihadisten am Ende des Films als Märtyrern gefallen sind. Dadurch wird es zum Symbol des Leidens aller Waisenkinder – vor allem Mädchen und jener Frauen, die am stärksten unter den Folgen der von Männern geführten Kriege leiden. Voller Kummer äussert die Sängerin ihre Sorge um die Kinder in ihrer Heimat im Titelsong „Timbuktu Faso“. Weg von den Kameralichtern darf Toya dieses Mal vor den Scheinwerfern einer Konzertbühne in der realen Welt mit anderen Kindern im Rhythmus dieses Songs tanzen:
« Timbuktu Faso »
ko o ye ne faso ye
N balimalu Tonbuktu ye ne faso ye
mmm ko o ye ne faso ye
Sinjilu, Tonbuktu ye ne faso ye
ko denmisɛnnin w bɛ kasi la Ala
Adamadenya, badenya dugu ye Tonbuktu ye
Sinjiya, Sinjiya dugu ye Maliba ye
yankalu yan ye ne faso ye
oo bo oo boo ooooo bo oo boo ooo
ko o ye ne faso ye
aw bɛ kasi la mun na …
____________________________________„Heimat Timbuktu“
Das ist meine Heimat
Meine Leute, Timbuktu ist meine Heimat
Ja, es ist meine Heimat.
Meine Verwandten, Timbuktu ist meine Heimat
Die Kinder weinen, oh Gott
Timbuktu ist das Land der Menschlichkeit und der Brüderlichkeit
Mali ist das Land der Brüderlichkeit, Brüderlichkeit
Leute von hier, hier ist meine Heimat
oo bo oo boo ooooo bo oo boo ooo
Das ist meine Heimat
Warum weint ihr …
Sonntag ist Ruhetag oder besser gesagt „Hochzeitstag“ in Bamako, wie Amadou und Mariam es so wunderschön in einem weltberühmten Song besungen haben. Es herrscht Krise: „c’est la crise“ – aber in Bamako wird wie in alten Zeiten gelebt und gefeiert. Keine Spur von Krieg und Elend im Land. All die unschönen und apokalyptischen Bilder von Terrorismus sind weit entfernt. Wir sind doch in Bamako, der Hauptstadt, dort wo jeden Tag Flüge Paris-Bamako-Paris von Air France landen. Nichtsdestotrotz verraten die Sicherheitskontrollen mit Scanners vor Supermärkten und einigen öffentlichen Gebäuden, dass nicht immer alles ruhig, entspannt und friedlich ist. Bamako ist nicht länger die afrikanische Stadt, deren Bewohner über Kriege und Flüchtlinge nur von der Ferne gehört hatten. Jetzt stehen Flüchtlinge und andere „Kriegsgespenster“ vor der eigenen Haustür. In voller Montur.
Montag, 07. Januar 2019
Früh am morgen holt mich der Chauffeur vom Institut des Sciences Humaines (ISH) ab. Wir fahren von einem Stadtteil zum anderen, um das Forschungsteam aufzusammeln. Fünf Personen: Drei Forscher, ein Assistent und ein Chauffeur. Es ist bald 7 Uhr. Der Verkehr ist schon durch Staus gelähmt. Rauchwolken vom Abgas der unzähligen Autos und Motorräder verdecken die Sicht. Es ist heiss im Auto und das Radio ist laut. Es ist Zeit für Nachrichten auf RFI. Grosse Überraschung in Afrika: „Putschversuch im Gabun“. Der lange erkrankte Präsident des zentralafrikanischen Landes Ali Bongo ist seit Monaten in Behandlung bei seinem Freund, dem marokkanischen König Mohamed VI. Einigen Soldaten der Präsidenten-Garde dauerte dieser Aufenthalt zu lange. Eigenmächtig haben sie entschieden, den demokratisch gewählten Ali Bongo zu stürzen. Jedoch ohne Erfolg.
Bald kommen wir beim ersten Kontrollposten von Bamako an. Offensichtlich sind wir nicht die ersten Frühaufsteher. Der Kontrollposten ist bereits mit Essensverkäufern und Strassenkindern belebt. Einige Gendarmen und Polizisten müssen noch frühstücken, es eilt ja nicht. Haïdara, unser Chauffeur, muss „l’ordre de mission“ vorweisen, schliesslich fahren wir in einem staatlichen Dienstauto. Nach den Formalitäten dürfen wir weiterfahren. Nun sind wir auf dem Weg nach Ségou, auf der Route Nationale (RN) 6. Die neu ausgebaute und asphaltierte Strecke Bamako-Ségou ist noch in einem äusserst guten Zustand. Sie wurde von einem chinesischen Unternehmen gebaut. Wir haben noch mehr als 230 Km Weg zu fahren. Wenn alles gut geht, sind wir in drei Stunden in Ségou. Mein Kollege Oumar Sidibé kommt aus Fana. Er kennt die Stadt. Dort können wir etwas essen und Diesel für das Allrad-Dienstauto tanken. Weit und breit keine Spur von Krieg. Jedoch begegnen uns in jeder Stadt Strassenkinder. Oder sind es Kinder aus Koranschulen? Seit dem Beginn der Krise kann man nicht mehr zwischen diesen Koranschülern und Strassenkindern unterscheiden. Haïdara stammt aus Gao, der wichtigsten Stadt im Norden. Ihm fällt auf, dass viele Kinder aus dem Norden und weit entfernten Gegenden kommen. Sie verstehen kein Bambara. Sind das Waisenkinder wie Toya? Wie sind sie hier gelandet? Interessiert Keinen. Wer kümmert sich um sie? Niemand.
Gegen 11 Uhr sind wir an den Kontrollposten vor dem Eingang Ségous angekommen. Die ersten schwerbewaffneten Soldaten kommen in Sicht. Wohl ein Check-Point. Auf der anderen Strassenseite sitzen junge Soldatinnen und Soldaten im Schatten eines Mangobaums. Sie trinken Grüntee mit Minze. Die einen behalten ihre Kalaschnikows auf dem Schoss, die anderen lehnen sie an die Mangobäume. Es wird diskutiert und gelacht. Alles ist friedlich, die Soldaten auch. Keine Anzeichen von Anspannungen, obwohl wir uns dem Landeszentrum nähern. Wir dürfen weiterfahren.
Noch 70 Kilometer Fahrt auf einer typischen roten Landpiste erreichen wir gegen 11 Uhr die ländliche Gemeinde von Dioro. Beim Stadteingang gibt es keine Kontrolle. Es ist bald Zeit für die Siesta. Von Weitem winken uns die Gendarmen zu. Wir dürfen ohne Halt weiterfahren. Immerhin sind wir mit einem staatlichen Dienstauto unterwegs: Grünes Licht, keine Gefahr in Sicht.
Dioro. Seit 1996 ist Dioro eine der 703 ländlichen Gemeinden, die den Beginn des Dezentralisierungs-prozesses in Mali konkretisiert haben. Seitdem unternimmt die Bevölkerung Eigeninitiative für die Entwicklung ihrer Gemeinden. In diesem Prozess spielen die demokratisch gewählten lokalen Vertreterinnen und Vertreter eine entscheidende Rolle. In Zusammenarbeit mit dem Rathaus muss sich die Zivilgesellschaft in allen Lebensbereichen der Gemeinde stark beteiligen. Partizipation ist angesagt. Im Gegenzug verspricht der Staat den Transfer notwendiger finanzieller und personeller Ressourcen. Auf dem Papier liest sich das gut…
Dioro liegt am Ufer des Nigerflusses. Das Dorf wurde im 17. Jh. von drei Jäger-Brüdern gegründet. Heute zählt die Gemeinde ca. 60 000 Einwohner. Hier leben friedlich verschiedene Volksgruppen zusammen: Bambara, Peul, Bozo, Dogon, Malinké, Songhay etc., die entweder als Landwirte, Fischer, Viehzüchter oder Händler tätig sind. Dank der Nähe zum Fluss ist die Gemeinde attraktiv. Hier leben Bauern von Reisanbau und Gartenbau. Dioro ist ein landesweit bekannter Produktionsstandort von qualitativ hochwertigem Reis.
In der Gemeinde gibt es kein Hotel. Aber wir haben bereits einen Kontakt: Ibrahim Diakité. Er kommt aus Markala, 30 km entfernt, aber er arbeitet in Dioro für die Sparkasse Nyesigiso, zuständig für Kleinkredite. Die Frauen sind das grösste und wichtigste Zielpublikum, deswegen ist Herr Diakité in der Gemeinde gut bekannt. Dank seinen Beziehungen konnten wir eine Unterkunft finden, deren Besitzerin in Bamako als Beamtin tätig ist. Ein grosses Haus in einer ruhigen Gegend, in der Nähe des Kontrollpostens der Gendarmen. Allerdings ist es unmöbliert, weder Betten noch Schlafzeug sind vorhanden. Komplett leergeräumt. Wir müssen Schlafmatratzen mieten, uns einrichten und jemanden finden, der für uns kochen kann. Zum Glück hatte Diakité bereits einer Bekannten damit beauftragt. Sie heisst Safiatou Ballo, gebürtig aus Dioro.
Es bleibt keine Zeit für eine Mittagspause. Umgehend fahren wir zum Rathaus. Wie die lokale Radiostation Jedugu und das grösste Schulhaus liegt es am Ufer des Niger-Flusses. Die Hauptstrasse führt dorthin vorbei. Wir werden von Gaoussou Togola, dem leitenden Generalsekretär empfangen. Der 42-Jährige stammt aus Ségou und arbeitet seit 2005 als Beamter in ländlichen Gemeinden. Seine ersten Erfahrungen hat er in der Region von Mopti sammeln können. Er kennt sich sehr gut mit der Mentalität der ländlichen Bevölkerung aus. Er versteht sie, er beherrscht den Kodex. Seit drei Jahren arbeitet er hier in Dioro, aber seine Familie lebt unweit in Ségou bei seinen Eltern. Nach dem Empfang verschafft er uns einen Überblick über die Geschichte der ländlichen Gemeinde Dioros. Er erläutert die Beziehungen zwischen dem Rathaus und der Bevölkerung sowie die Aufgaben des Bürgermeisters und seines Teams. Laut ihm besteht der Auftrag des Rathauses ausschliesslich darin, den Mitbürgern Basisdienste zu anzubieten: die Administration von Dienstleistungen, Urbanisierungs- und Wohnpolitik, Bereitstellung und Wartung für Infrastruktur für Bildung, Gesundheit etc., Organisation und Unterstützung von kulturellen Aktivitäten sowie Gewährleistung erster Hilfe in Notsituationen. Aber dieser Auftrag beruht auf der Partizipation der Bevölkerung, vor allem dank ihrer Steuergelder. Nach diesem ersten Gespräch setzt er uns mit Vertretern der Zivilgesellschaft in Verbindung. Wir vereinbaren einen Termin. Morgen um 9 Uhr beim Rathaus.
Inzwischen können wir uns mit dem dritten Vize-Bürgermeister unterhalten. Er heisst Modibo Coumaré und stammt aus Dioro. Wie der Bürgermeister wurde auch er als Kandidat der politischen Partei Rassemblement pour le Mali (RPM) vom Präsidenten Ibrahim Boubacar Kéita gewählt. Der Vize-Bürgermeister erzählt uns von der Entwicklung Dioros vom einfachen Bauern- und Fischer-Dorf zu einer ländlichen Gemeinde, die aus dreissig Dörfern besteht. Zudem gibt er uns Details über das Berufungsverfahren des Gemeinderates sowie die Funktionsweise des Rathauses bis hin zu den Aufgaben der einzelnen Bürgermeister. Alles basiert auf demokratisch geprägten Wahlverfahren. Er erklärt, wie das Rathaus trotz der Steuereinnahmen der Gemeinde-Anwohner, staatlichen Subventionen und der Zusammenarbeit mit lokalen, nationalen und internationalen Partnern und NGOs jeden Tag ums Überleben kämpft: „Ohne die Steuereinnahmen der Bevölkerung kann das Rathaus nicht funktionieren“, wird regelmässig betont. Nur dank dieser finanziellen Mittel können der Bürgermeister und seine Mitarbeiter ihren Auftrag erfüllen. Aber sie haben grosse Schwierigkeiten die Steuern effizient einzutreiben. Um Kommunikationsbarrieren in der Zusammenarbeit mit der Bevölkerung vorzubeugen, wird Bambara gesprochen, der lingua franca. Hingegen wird in Sitzungen mit NGOs und internationalen Partnern für Entwicklungsprojekte wie die deutsche Entwicklungszusammenarbeit auf Französisch gearbeitet. Bald ist es 16 Uhr und Zeit für das zweite Nachmittagsgebet. Im Hof des Rathauses sitzen wir im Schatten von Mango- und Niembäumen. Ich bin ein wenig besorgt: „Wird das Treffen mit den Vertretern der Zivilgesellschaft wie abgemacht stattfinden?“
8. Januar 2019
Es ist 9 Uhr. Fast alle unsere Gäste sind im Hof des Rathauses versammelt: ein Mann, Herr Gaoussou Mariko und 4 Frauen, Ramata Traoré, Tata Cissé , Mariama Coulibaly und Kankou Diarra. Allesamt Vertreter der wichtigsten Organisationen der Zivilgesellschaft in Dioro. Der pensionierte Lehrer Gaoussou Mariko widmet sich Leitungsaufgaben eines Kindergartens. Ansonsten ist er sehr aktiv in der Zivilgesellschaft und Mitglied vom GAC[2]. Durch Sensibilisierungskampagnen der Bürger über ihre Rechte und Pflichten in einem demokratischen Staat engagieren sich die Mitglieder dieses Dachverbands ehrenamtlich für eine staatsbürgerliche Erziehung in der Gemeinde. Zudem spielen sie auf allen Ebenen eine Vermittlungsrolle in der Zusammenarbeit zwischen dem Rathaus und der Bevölkerung. Der Dachverband aller Frauenorganisationen („plénière des femmes“) erfüllt ähnliche Aufgaben. Alle anwesenden Frauen wie Ramata Traoré sind sehr aktiv in dieser Organisation. Als Frauen wissen sie, wie sie andere Frauen dazu motivieren können, z.B. sich während Schwangerschaften im Gesundheitszentrum kontrollieren zu lassen. Freiwillig setzen sie sich jeden Tag in der Gemeinde gegen das soziale Phänomen der frühen Verheiratung der Mädchen sowie gegen ihre Beschneidung ein. Hinzu kämpfen sie für eine bessere Schulbildung der Frauen. In ihrer Öffentlichkeitsarbeit werden die Vertreterinnen der „plénière des femmes“ vom Rathaus und Projekten der deutschen Entwicklungszusammenarbeit wie PADRE[3] unterstützt. Auf meine Frage über die Kommunikationssprache antwortet die Reisproduzentin Kankou Diarra folgend: „Wir erzielen Erfolg in unseren Kampagnen bei den Bevölkerungen, weil wir die Menschen in ihrer Muttersprache ansprechen. Wir kämen überheblich rüber, wenn wir sie auf Französisch ansprechen würden. Damit würden wir nur ein Überlegenheitsgefühl vermitteln. So wären wir sicherlich auf taube Ohren gestossen. Wir kommunizieren mit den Bauern sowie mit den traditionellen Chefferien auf Bambara“. Die Frauen sind stolz auf ihr Engagement. Sie möchten beweisen, dass sie das Vertrauen der Frauen und Männer von Dioro verdient haben. Nichtsdestotrotz erhalten sie für diesen sinnvollen Einsatz keinen Lohn: «Dieses Engagement ist eine Selbsthilfe», heisst es. Die Botschaft ist unmissverständlich: „Hier setzen wir uns für die Entwicklung unserer eigenen Gemeinde ein». Während unserer Interviews erfahren wir, dass das Komitee des Vereins für Gesundheitsfragen in der Gemeinde (ASACO)[4] am Nachmittag eine Sitzung hält. Wir melden unsere Teilnahme an.
Die Gesundheitsversorgung in Mali bleibt immer noch ein harter Brocken. Im malischen Gesundheitssystem bilden die Centre de Santé Communautaire (CSCOM) [5] die Basis der medizinischen Versorgung. Nach dem Prinzip der „Médecine de première ligne“ leisten sie Ersthilfe und vertreten die ersten Anlaufstellen für Patienten. In Dioro muss die Bevölkerung auch für ihre Gesundheit proaktiv sein. Das ASACO ist dafür verantwortlich. In Zusammenarbeit mit dem Rathaus und weiteren nationalen und internationalen Partnern haben sie ein Gesundheitszentrum gegründet. Das CSCOM wird von Dr. Djibril Magassouba geleitet. Der 38-jährige Familienvater ist aus Bamako und leitet allein das Gesundheitszentrum mit einer Geburtshelferin und einigen Krankenschwestern und Praktikanten. Weit und breit ist er der einzige Arzt, der für die Gesundheitsversorgung der sieben Quartiere der Stadt von Dioro und drei weiteren Nachbardörfern zuständig ist. Zudem fallen auch administrative Aufgaben an. Dabei verdient Dr. Magassouba als Beamter des malischen Staates ca. 600 CHF pro Monat. Ein Privileg? Für seine Aufgabe kann er sich auch auf Gesundheitsmultiplikatoren sogenannte „Agents de santé communautaire“ (ASC) verlassen. Im hiesigen Gesundheitskreis ergänzen neunzehn ASC-Agenten die Bemühungen des CSCOM, um den Bevölkerungen medizinische Basisversorgung anbieten zu können. Jeder ASC ist verantwortlich für dutzende Haushalte. Jeden Monat erstatten sie ihrer Kundschaft einen Besuch ab, um sich über die Gesundheitslage der Familienmitglieder zu erkundigen. Zudem unternehmen sie Sensibilisierungskampagnen für Hygiene und Gesundheitsprävention im Haushalt. Regelmässig prüfen sie den Entwicklungs- sowie Gesundheitszustand der Kinder. Zudem beraten sie zum Thema Ernährung. Bei Impfkampagnen übernehmen die ASCs die Sensibilisierung der Bevölkerung und begleiten Impfteams.
Bald 14 Uhr. Die Sonne steht hoch im Himmel. Es ist warm: „Nur 35 Grad im Schatten, das ist noch angenehm“. Das Gesundheitszentrum liegt direkt beim Rathaus am Flussufer. Die Sitzung findet auf der grossen Terrasse im Schatten eines Blechdachs statt. Neben der Terrasse befinden sich ein Gemüsegarten und einige Bananenpflanzen. Sie sorgen dafür, dass die Luft auf der Terrasse mitten im Hof frisch und angenehm wirkt. Nebenan steht ein Dreirad mit Anhang, die Ambulanz, ein chinesisches Fabrikat. Einige ASACO-Mitglieder sind bereits anwesend. Auch Frau Assitan Kané ist gekommen. Sie arbeitet als „Agent de santé communautaire“. Die 50-jährige Familienmutter betreut im Quartier von Missira ungefähr 138 Haushalte. Dank einer Finanzierung vom „Projet Village du Millénaire“ (PVM)[6] wurde sie beim malischen Roten Kreuz zum ASC ausgebildet. Für diese Aufgabe erhält sie ein Monatsgehalt von ca. 70 CHF. In Zusammenarbeit mit dem Rathaus und dem ASACO stellt die Population Service International (PSI)[7] Mali diese Summe zur Verfügung. In ihrer Hausapotheke verfügt Frau Kané über einen Vorrat für Notfälle – darunter auch Beratungsmaterial für Familienplanung sowie sexuell übertragbare Krankheiten. Unermüdlich empfiehlt sie Schwangeren unter medizinischer Aufsicht ihre Kinder im CSCOM zur Welt zu bringen.
Frau Assitan Kané ist keine Krankenschwester. Sie darf keine medizinischen Eingriffe am Körper vornehmen. Keinesfalls darf sie impfen. Jedoch wurde sie ausgebildet, um bei Kindern und Erwachsenen Symptome häufigster Krankheiten wie Malaria, Diarrhöen, Reizhusten sowie Erkältungserkrankungen zu erkennen. Auf meine Frage, ob ihre Arbeit sinnvoll sei, erwidert sie: „Dank unserem Einsatz als ASC gibt es immer mehr Frauen, die Termine für Schwangerschaftskontrollen im Gesundheitszentrum einhalten. Wir sind immer darüber informiert, wenn jemand krank ist. Mali ist ein armes Land, es gibt immer noch viele Menschen, die lieber zu traditionellen Therapeuten gehen anstatt zum CSCOM. Ihnen sind die Gesundheitskosten zu hoch. Sie können sich nicht leisten, zum Arzt zu gehen“.
Ja, Armut. Dieses Jahr sind die Ernten landesweit schlecht ausgefallen. Es hat zu wenig geregnet. Die Regenzeit dauert nur zwischen drei und vier Monaten. Davon hängt in Mali alles ab. Die Versorgung sowie die Wirtschaft. Auf dem Markt sind die Preise der Hauptnahrungsmittel wie Reis, Sorgho, Hirse und Mais gestiegen.. Im Rahmen ihres Programms für Nahrungssicherheit muss die Regierung eingreifen. Zum ersten Mal in der Geschichte ist auch Dioro davon betroffen. Darüber wollen wir mit dem Generalsekretär diskutieren.
9. Januar 2019
Am Vormittag sind wir wieder beim Rathaus. Leider hat Herr Togola für uns keine Zeit. Wir müssen am Nachmittag wiederkommen. Am Nachmittag treffen wir wie abgemacht den Generalsekretär. Der Hof des Rathauses ist fast leer. Nur der Hauswart und der Chauffeur sitzen im Schatten und trinken Grüntee. Noch müssen wir kurz warten. Jetzt hat Herr Togola Zeit für uns. Diskussionsthema: Ernährungssicherheit. Zuerst möchte der Generalsekretär klarstellen, dass eine kostenlose Verteilung von Nahrungsmitteln im Rahmen des Nahrungsprogramms der Regierung noch nie in Dioro stattgefunden hatte. Im Zuge des Krieges haben die Flüchtlinge aus dem Norden Hilfe bekommen. Diese Hilfe war aber nur für Flüchtlinge bestimmt. Das ist in 2015 passiert. Dieses Jahr jedoch will der malische Staat dem Rathaus Dioros vierzig Tonnen Nahrungsmittel zukommen lassen. Vierzig Tonnen Hirse für ca. 60.000 Menschen? Nein, nur für die ärmsten Bürgerinnen und Bürger der Gemeinde. Absurd, wenn man weiss, dass wegen Regenmangels die Produktion Dioros auf die Hälfte zurückgefallen ist: «Unter diesen Umständen leben Menschen hier unter äusserst schwierigen Bedingungen. Die Armut ist in der Bevölkerung extrem gestiegen. Wie soll man in diesem Kontext bloss vierzig Tonnen verteilen? Das ist absurd. Immerhin sind in der Gesellschaft die ärmsten Familien bekannt: alleinerziehende Mütter und Witwen. In der Gemeinde kann man 1400 solche Personen zählen. Hier kennt man sich.» so Herr Togola. Seit einigen Wochen wurde das Rathaus informiert, die wertvolle Hilfe in Ségou abzuholen. Die Leute der Regierung machen Druck. Aber in Dioro geht man nach eigenem Rhythmus. Das Rathaus kann nicht allein darüber bestimmen, wie diese Hilfe verteilt wird. Alle Partner müssen konsultiert werden. Die Zivilgesellschaft, die traditionellen Chefferien, die Dorfchefs etc.
So ist es jeden Tag weitergegangen. Von einem Interview zum anderen war ich jeden Tag auf den Spuren von Agenda 2030 in Dioro. In jedem Gespräch kamen immer wieder dieselben Themen vor: Armut, Hunger, schwieriger Zugang zu Gesundheitsversorgung, Gleichstellung von Männern und Frauen, Rechte der Frauen sowie Partizipation. Mit schwerem Herzen habe ich erfahren, dass die Schulen geschlossen waren. Die Lehrer hatten einen landesweiten Streik angefangen. Sie wollten einen besseren Lohn und bessere Arbeitsbedingungen.
Neben generalisierter Armut erschweren Sicherheitsprobleme die Entwicklung des Landes sowie des gesamten Sahelbereichs. Der Staat ist mehr denn je schwach. Realistisch steht die Umsetzung der nachhaltigen Entwicklungsziele in Mali vor erheblichen Schwierigkeiten. Für Mali und die Sahelländer wäre eine Agenda 2060 realistischer. Am Ende dieses Forschungsaufenthalts ist meine Neugierde für die Erforschung dieser Thematik aber nach wie vor gross.
[1] https://www.google.com/search?client=firefox-b-d&q=timbuktu+film
[2] GAC: „Groupement d’acteurs citoyens“ ist ein Dachverband aller Organisationen der Zivilgesellschaft in Dioro.
[3] Mehr dazu siehe: https://www.giz.de/de/weltweit/42442.html
[4] ASACO: Association de Santé Communautaire
[5] Mehr dazu siehe: https://www.fpa2.org/projet-296.html
[6] Mehr dazu siehe: http://www.psimali.ml/
[7] CSCOM: Centre de Santé Communautaire