Das Wort „Tabu“, das bei Sigmund Freud Prominenz erhalten sollte und nicht mehr aus unserem Alltagswortschatz wegzudenken ist, brachte James Cook aus der Südsee mit. „Amok” bezeichnete die legendäre militärische Kampfeswut malayischer Elitekämpfer. Das Hakenkreuz – ein deutsches Fanal des Hasses – geht auf ein indisches Symbol des Glücks zurück, die Sintflut der hebräischen Bibel auf eine assyrische Erzählung und der Name des Online-Händlers „Amazon” auf den eines südamerikanischen Flusses – und dieser wiederum auf die Legenden von einem zentralasiatischen Frauenvolk. Das @-Zeichen der Cybemoderne bezeichnete eine iberische Masseinheit im 16. Jahrhundert. Der spitze Hut als Accessoire von Zauberern in bei Harry Potter begann als Kennzeichen für Fremde im griechischen Altertum und wurde dann zu einem Stigma von Juden im Mittelalter. Fast alles, was uns vertraut ist, stellt sich, wenn wir es genauer betrachten, als Ergebnis (bisweilen überraschender) Transfers heraus. Wenn Zeichen, Konzepte, Praktiken und Gegenstände wandern und sich verändern, stellen sie die essentialistische Vorstellung in Frage, Kulturen seien in sich gleichförmige und nach außen abgeschlossene Größen, die jeweils selbständig funktionieren und eindeutig bestimmt werden können. Der Schweizer Nationalheld, Wilhelm Tell, ist ein skandinavischer Mythos, den ein deutscher Schriftsteller dramatisierte. Das Bild der Germanen wiederum entwarf ein römischer Historiker. Was wir „Kultur“ nennen, ist immer auch das Ergebnis von „Transfer“.
Das Wort „Kultur” im Zusammenhang mit Kulturtransfer kann deshalb nicht den Transfer zwischen essentialistisch gefassten „Kulturen” bedeuten. Durch die Anerkennung der Fluidität von Wörtern, Texten und Bildern usw. betonen wir nicht nur den Fluss von Objekten aller Art, sondern auch die Fluidität der beteiligten Personen sowie die Instabilität der Umgebungen, in denen diese Prozesse stattfinden. Grenzen, Triagen und Orte, auch wenn sie imaginär sind, können durchaus real und politisch folgenschwer sein, aber sie sind auch in Bewegung, so dass Ursprung und Ende oder sogar Richtungen kultureller Prozesse nur schwer bestimmbar sind. So kann Kultur selbst als Transfer verstanden werden, wie Lutz Musner vorschlägt, genauer gesagt als ständige Verhandlung und Differenzierung. Und die Instabilität der an Kulturtransfers beteiligten Enitäten spiegelt sich in der Instabilität der transferierten Objekte selbst wider. Denn was reist wirklich, wenn das Wort „Tabu” reist? Ein Signifikant, eine Bedeutung, eine Grammatik, eine Praxis?
Und wie können wir solche komplexen Vorgänge sichtbar machen? Wie reisten nicht nur Menschen, sondern mit ihnen auch Gegenstände und Geschichten, Technologien und Praktiken, Ideen, Begriffe und Zeichen von einem komplexen Kontext in einen anderen? Und wie haben sie sich dabei verändert, welche neuen Bedeutungen und Funktionen haben sie angenommen? Können wir Gemeinsamkeiten feststellen, vielleicht sogar Regeln ableiten?
Das auch für nicht-akademische Leser:innen anschlussfähige sich in Arbeit befindende Buchprojekt KulturTransfer versammelt ohne einen Anspruch auf Systematik Beispiele aus verschiedenen Regionen, Epochen und Feldern. Sie werden beschrieben aus der Sicht diverser Disziplinen: vom Schwarzen Tee und der Kartoffel über den Weihnachtsmann oder Superman bis zum Hitlergruß und zum Hakenkreuz.
Herausgeber sind der Schriftsteller Raoul Schrott, zusammen mit dem Komparatisten Oliver Lubrich und dem Anthropologen Michael Toggweiler. Beiträge stammen aus dem Umfeld der Graduate School of the Arts and Humanities Bern, der Berner Komparatistik und externen Expert*innen.